DIE GROTTENWOHNUNG
Im Palazzo Borromeo auf der Isola Bella führt eine moderne Treppe in das untere Stockwerk auf Seespiegelhöhe zu einer faszinierenden Abfolge von sechs „skurrilen“ Räumen, die natürlichen Höhlen nachempfunden sind und von Vitaliano VI. Borromeo erdacht und entworfen wurden.
Die Idee
Die ehrgeizige Idee der „grotesken“ Wohnung hatte Graf Vitaliano VI. Borromeo bereits 1662 in einem Brief an seinen Bruder Giberto III. kundgetan, in dem er von „grottenartigen Sommerzimmern, wie ich sie im Palazzo della Favorita des Herzogs von Mantua gezeichnet gesehen habe“ sprach.
Dank ihrer Lage beinahe am Wasser, mit Fenstern, die direkt auf den See gehen, sind sie eine Einladung, die Aussicht und die Brise der kühleren Winde zu genießen.

Dieses Projekt inspirierte sich vermutlich auch an zwei anderen Beispielen in der Lombardei: den Grotten der Visconti Borromeo in Lainate und den von Bartolomeo Arese in Cesano Maderno.
Das Projekt
Erst 1689 wurde das Projekt Filippo Cagnola anvertraut, einem florentinischen Architekten, den die Familie Borromeo zum Studium zu Carlo Fontana nach Rom geschickt hatte.


Zeichnungen von Filippo Cagnola
Die sechs, direkt vom Garten aus zugänglichen Räume im Erdgeschoss sind über und über mit Kieselsteinen, Tuffstein, Lava, Kohleresten, „pietre lustre“ (Marmor), Glimmerfragmenten und Marmorsplittern aus Candoglia verkleidet. Abgerundet wird das Ganze von Stuckornamenten zum Thema Wasser wie Muscheln, Nymphen, Meerjungfrauen, Delphine, Fische und Schildkröten. Die Böden sind mit weiß-roten und schwarzen Fluss- und Seekieseln bedeckt, und zeichnen die heraldischen Unternehmen der Borromäer nach.
Nach Vitalianos Tod kamen die Arbeiten zum Stillstand und wurden erst 1758 unter der Leitung des Architekten Giulio Gallori wieder aufgenommen.



Die erste Grotte
Der „Saal der vier Säulen“ war der erste und wahrscheinlich einzige, dessen Gewölbe und Wände nach dem Entwurf von Cagnola fertiggestellt wurden. Er rief sofort große Bewunderung hervor. Am 16. Oktober 1689 schrieb Carlo IV. Borromeo Arese, der Neffe von Vitaliano:
„Eure Lordschaft freue sich darüber als über das Schönste, was es auf der Insel gibt“.

Die zweite Grotte
In der zweiten Grotte herrscht das Thema Muscheln vor. Die neoklassische Marmorbüste eines Condottiere ist ein Werk von Giovan Battista Monti. In der Vitrine sind Muscheln und versteinerte Algen so angeordnet, dass sie ein mysteriöses Stillleben ergeben.

Die dritte Grotte
In der dritten Grotte herrschen rot-weiße Schattierungen von Marmorfragmenten vor.
In ihrer Mitte die zarte und verführerische Statue der schlafenden Venus von Giovan Battista Monti. Die sanfte, lebensgroße Skulptur brachte Gilberto V. Borromeo in Verlegenheit, denn ein Besucher hatte sich über den übertriebenen Realismus der Statue beschwert, so dass der Fürst kurz davor stand, die „skandalöse“ Statue zu verkaufen.
Glücklicherweise ist die wunderschöne Skulptur erhalten geblieben und kann als absolutes Meisterwerk von Giovan Battista Monti, einem der größten Protagonisten des Neoklassizismus, betrachtet werden.


Die vierte Grotte
In der vierten, mit Muschel-, Bienen- und Delphinmotiven dekorierten Grotte steht eine Skulptur von Flora, der Göttin des Frühlings und des Überflusses. Auch in diesem Raum stehen Vitrinen mit Algen- und Korallenkompositionen und in seiner Mitte ein Modell des Bucintoro, des Galaboots des Dogen von Venedig, das Anfang des 19. Jahrhunderts in Erinnerung an das ursprüngliche Schiff realisiert wurde, das leider während der napoleonischen Besetzung der Serenissima verbrannte.
Die fünfte Grotte
Die fünfte Grotte ist die größte der Sommerwohnung. Sie wird von vier Säulen getragen und ist wie die anderen Räume mit Steinverkrustungen, schwarzen Marmorplatten, Stuck in Form von Muscheln, Schildkröten, Meeresgöttern und lustigen Masken verziert.
Diese Grotte wurde 1690 fertiggestellt und 1772 wurden von Carlo Croce, einem Architekten und Wasserbauingenieur, die Wasserspiele installiert, um „die neuen Brunnen im Mosaik in Betrieb zu nehmen“, die die Gäste der Insel begeistern sollten, aber heute nicht mehr in Betrieb sind.

Die sechste Grotte
Die sechste und letzte Grotte, mit einem Brunnen aus dem Jahr 1772, beherbergt eine spektakuläre Reihe von Sätteln, Geschirren, Sattel- und Saumzeug mit den Wappen der Familien Borromeo, Barberini und Odescalchi, die von der Familie Borromeo bei feierlichen Ausritten verwendet wurden.


Von der letztgenannten Grotte gelangt man durch einen Durchgang mit einer indischen Statue aus dem 11. Jahrhundert, die die Göttin des Wassers darstellt, zur Wendeltreppe, die im 17. Jahrhundert gebaut wurde und in die verschiedenen Stockwerke des anschließenden Palastes führt.
Die auskragend direkt an der Wand befestigten rohen Granitstufen sind ein kleines technisches Meisterwerk.


Die Suggestion dieser Orte veranlasste Abt Jérôme Richard 1766 zu dem Ausruf:
Sie sehen aus wie die Zauberinseln Alcina oder Calypso oder die von jenen höchst verführerischen Feen
und beeindruckte auch Giberto III., der seinem Bruder Vitaliano Muscheln schenkte, die er ohne zu zögern als
viel schöner und wertvoller als die des Meeres
bezeichnete.
